Was passiert mit uns, wenn wir spüren, dass nichts mehr so ist, wie es war? Was kommt auf uns zu, wenn unser Tier so krank ist, dass es den Körper verlassen könnte? Wie bewältigen wir diese Krise und wie gehen wir mit unserer Verlustangst um? Und können wir lernen, auf die Sprache unseres kranken Tieres zu hören und ihr zu vertrauen, trotz der Angst, etwas falsch zu machen oder zu verpassen? Möge Ihnen die Erzählung meiner eigenen Erfahrung, die ich vor vielen Jahren machte, helfen.
Anamnese. Daisy, ein kleines schwarzes Büsi mit weissem Brustfleck, war fröhlich, lebenslustig und witzig. Wenn sie etwas wollte oder eben nicht wollte, konnte sie eigensinnig und stur reagieren. Und sie war sehr anhänglich. Am liebsten lag sie auf meinem Schoss, wann immer sich eine passende Gelegenheit bot, und in der Nacht wärmte sie meine Füsse unter der Bettdecke. Wegen ihrer geringen Körpergrösse wirkte sie auch mit 16 Jahren immer noch jugendlich, irgendwie alterslos. Als junges Kätzchen ist beim Spielen unter dem Bürostuhl die Achillessehne gerissen und sie musste operiert werden. Das heilte wunderbar, obwohl es für sie wie mich anstrengend war, sie eine Weile im Haus zu behalten. Sonst war sie gesund.
Die Krankheit beginnt. Anfänglich dachte ich mir nicht viel dabei, wenn sie hin und wieder eine leichte Halsentzündung hatte. Die Schluckbeschwerden besserten schnell mit der Gabe von Kügeli. Bis mir auffiel, dass es ihr schlechter ging. Sie hatte abgenommen und wirkte matt. Bei genauerer Beobachtung stellte ich fest, dass sie sehr wenig frass und häufiger beim Wassergeschirr war als üblich. Ausserdem schlief sie deutlich länger und tiefer als dies ältere Tiere natürlicherweise tun.
Als Tierärztin wusste ich, was das bedeutete. Aber als Tierhalterin traf mich die Möglichkeit Daisy zu verlieren wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich war geschockt. An diesem Punkt angelangt gehen wir Tierhalter mit unserem Tier normalerweise zu einem Tierarzt/-ärztin. Sie wird Blut nehmen, und die Laborwerte werden den Verdacht der Nierenerkrankung bestätigen.
Für mich kam dieser Weg nicht in Frage. Daisy hätte das weder gewollt noch zugelassen. Es wäre purer Stress gewesen
Die Sterbebegleitung beginnt. Ich war damals noch sehr unbewusst. Unerfahren. Heute bin ich tief dankbar für die Erfahrung, die Daisy mir schenkte. Und das dient wieder anderen sterbenden Tieren. Jedes Tier lehrt mich etwas, was dem nächsten Tier weiterhilft. Danke, Euch weisen Lehrer und Lehrerinnen.
Daisy suchte ungewohnte Schlafplätze auf. Dort lag sie friedlich zusammengerollt. Immer noch ging sie nach draussen, verweilte kurz im Garten oder in den Nachbarsgärten. Mit der Zeit wurde ihr Gehen mühsamer. Sie wurde schwächer. Nicht verwunderlich, denn das Futter rührte sie nicht mehr an. Sie trank nur noch.
Ich versuchte es ihr so angenehm wie möglich zu machen. Ganz nah wollte ich bei ihr sein während ihren letzten Tagen. Ich holte Decken und Wärmeflaschen, um ihren kalten Körper aufzuwärmen. Ein Wasserschälchen, das ich zu ihr hintrug, schreckte sie aus dem Tiefschlaf auf. Danach verschwand sie. Nach längerem Suchen fand ich sie unter dem Bett. Sie hatte sich verkrochen, um sich vor mir und meinem Bemuttern zu schützen.
Ihr Rückzug tat sehr weh, und dieser Schmerz triggerte weitere unangenehme Emotionen wie Unsicherheit, Ohnmacht, Verzweiflung, Angst und Verlustängste. Ich fühlte mich so allein und hilflos, wie «es Hüfeli Elend». Meine Tränen nässten das verlassene Bettchen. Im Nachhinein weiss ich, dass Daisy sich ähnlich gefühlt haben muss. Es tut einfach weh.
Allmählich begriff ich, dass ihr Verhalten sowie ihre Körpersprache eine Botschaft für mich waren. Sie drückten aus, dass ich ihre Grenze verletzte. «Gib mir Raum und Zeit. Trau mir zu, dass ich meinen eigenen Weg gehen werde, wie ich ihn auch in gesunden Zeiten immer eigenständig gegangen bin. Es ist meine Erkrankung, mein Recht auf Selbstbestimmung, mein Sterben und mein Tod.»
Meine weise kleine Daisy. Stur und eigensinnig, wie ich. Sie wollte die Verantwortung übernehmen.
Unsere Tiere sind intelligente, weise Helfer und Begleiter. Sie halten uns mit bedingungsloser Liebe den magischen Spiegel der Selbsterkenntnis hin. Denn sie wissen einfach Bescheid. Sie spüren einen tief verborgenen Teil in uns. Instinktiv und intuitiv wissen sie von unseren Schattenseiten und unseren alten verdrängten und tief verborgenen Verletzungen.
Daisy schenkte mir Zeit und Geduld, was sehr schön war. Ich brauchte diese kostbare letzte gemeinsame Zeit für meine innere Änderung. Sie selbst brauchte die gleiche lange Zeit für ihren Prozess.
So wandelten sich mein Kontrollzwang, meine Angst und Hilflosigkeit in ein zartes Vertrauen und in ein Übergeben. Ich lernte, mit dem Herzen zu hören und das Unvermeidliche zu akzeptieren, während ich mit mir selbst verbunden bleiben konnte. Die Emotionen hatten das bislang verhindert. Bald wurde ich belohnt, Daisy kroch unterm Bett hervor und verweilte am gewohnten Plätzchen. So weit, so gut.
Das Sterben beginnt. Die kommenden Tage wurden intensiv. Ihr Bewegungsradius verkleinerte sich. Sie bewegte sich nur noch zur Wasserschale und dem Kistchen. Beim Gehen musste sie immer wieder Pausen einlegen. Sie wurde schwächer und leidender. Tief in ihrem Körper innen wurde es eng. Da müssen wir wohl alle einmal durch.
Es kamen Phasen, in denen Daisy vor sich hindämmerte. Schwebt man dabei zwischen den Welten hin und her? Nimmt man jetzt Kontakt mit der Anderswelt auf? Geistig ist man weit weg und nicht mehr präsent im Körper. Während diesem gnadenvollen Zustand fühlt man keinen Körperschmerz. Wieder wach fühlen wir wahrscheinlich die Enge des Körperlichen stärker. Die Seele drängt auf ein Vorwärtsgehen in die unendliche Weite des heiligen Lichtes. Nach diesem «Austausch mit der Seele» kann etwas Schönes und Unerwartetes passieren. In die verharrten und blockierten Zustände der Schwere kommen Bewegung und Energie rein. Denn nun wird das zutiefst Kontrollierende weicher und weicher und fliesst in die Demut des Geschehen Lassens. Tief drinnen bricht etwas Magisches auf und weitet sich. Das Herz öffnet sich rhythmisch und lauscht den neuen und zugleich altvertrauten Klängen. Die Reise beginnt, begleitet zwar von leisen Zweifeln und Angst, aber auch erleichtert, mutig und neugierig. An diesen Tagen meinen wir, es gehe dem sterbenden Tier oder Menschen besser. Er blüht auf, lächelt weich. Das Tier macht plötzlich wieder eine langsame Runde im Garten, verabschiedet sich eventuell beim Nachbarn, was ich von Katzen immer wieder höre.
Auch bei Daisy gab es eine Veränderung. Ich war am Tee trinken und wurde völlig überrascht. Sie kam nach langen Tagen, die sie dämmernd an ihrem Plätzchen verbrachte, plötzlich zu mir an den Essplatz. Ihre Mutter Bonnie, die sich bis anhin nicht um die sterbende Tochter kümmerte, legte sich zu ihr hin und Daisy begann, sie zu schlecken. Bonnie senkte ihren Kopf und nahm die liebevolle Geste dankbar und demütig an. Ich war zu Tränen gerührt und berührt von diesem Rollentausch. Die Mutter schleckt ihr Junges und jetzt passierte es umgekehrt.
Ungefähr zwölf Stunden vor Daisy’s Übergang, hörten wir ein Möggen von ihr, das ich so noch nie gehört hatte. Es ist nicht leicht, diesen urigen Laut zu beschreiben. Es tönte rufend, klagend, bittend, intensiv, ganz kurz. Ein Seufzer aus der tiefsten Tiefe, so in etwa «ich kann nicht mehr». Während vielen zukünftigen Sterbebegleitungen begegne ich diesem Möggen immer wieder. Dann dürfen wir, so fühle ich, helfen.
Ich spürte, dass Daisy nicht mehr erdulden konnte. Ich auch nicht. Doch nun war ich mit dem Herzen und nicht mehr mit dem Kopf bereit, ihr zu helfen. Der Heimflug durfte so geschehen, wie Daisy das entschieden hatte, in der Abenddämmerung des Sonntages, ungefähr acht Wochen nach dem Beginn des Sterbeprozesses. Daisy war wohl schon weit ausserhalb ihres Körpers, denn sie nahm meine Spritzen nicht mehr war. Ein grosser Frieden wurde im Raum fühlbar. Es ist vollbracht.
Dankbarkeit, Erleichterung, Trauer, Freude, Schmerz, Jubel, Heimweh, Sehnsucht, Liebe, Sinnlosigkeit, Vertrauen…alles durfte sein. Und still und ruhig flossen meine Tränen neben der toten kleinen Daisy. Ein tapferes kleines Lächeln schenkte ich meinem zweitältesten Sohn Niklaus neben mir, der Daisy bis zum letzten Atemzug begleitete und mich moralisch unterstützte. Niklaus war 10 Jahre alt. Danke.
Ich liess Daisy’s Körper kremieren und ihre Asche habe ich später im Garten an einem ihrer Lieblingsplätzen gestreut.
Danke, liebe Daisy, für Dein mich Begleiten all die Jahre und Dein mich Lehren und Unterweisen im Lernen des Sterbeprozesses. Deine Weisheit dient und hilft noch heute vielen Patienten und Patientinnen.
Luzia Fischer
Tierarztpraxis & Sterbebegleitung
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